Mit einer enormen Willensstärke und einem klaren Blick für das Wesentliche meistert sie im Jahr 2010 erneut eine schwere Lebenskrise – obwohl ihr die Diagnose Rheumatoide Arthritis zunächst den Boden unter den Füßen wegreißt. „Meine Knie waren plötzlich wie zwei dicke Bälle angeschwollen und ich konnte meine Beine vor Schmerzen nicht mehr bewegen“, erinnert sich Kazal Yasen. Treppenstufen sind unmöglich zu bewältigen, jede Bewegung bereitet Höllenqualen. Im Krankenhaus ist sie auf den Rollstuhl angewiesen – eine Erfahrung, die sie psychisch stark mitnimmt. Es folgt eine Antibiotikatherapie und nach zweiwöchigem Krankenhausaufenthalt wird sie ohne Befund entlassen. Doch bereits zwei Wochen später kommen die unerträglichen Schmerzen zurück. Kein Schritt ist mehr möglich. Kazal Yasen wird mit Verdacht auf Rheuma ins Klinikum Bad Bramstedt eingewiesen. Nach unzähligen Untersuchungen dann die Gewissheit: Rheumatoide Arthritis.
„Trotz der Diagnose war ich erleichtert, denn meine Schmerzen, unter denen ich seit Jahren litt, hatten endlich einen Namen“, erinnert sie sich. Da ihre akademische Hochschulausbildung für das Bankwesen in Deutschland nicht anerkannt werden konnte, musste Kazal Yasen den Lebensunterhalt für sich und ihre drei Kinder als Zimmermädchen und später im Küchenbetrieb eines renommierten Hotels verdienen. Die immer wiederkehrenden Schmerzen, unter denen sie in den Gliedern, im Rücken und an den Händen litt, hatte sie bis zum Zeitpunkt des körperlichen Zusammenbruchs auf die starken physischen Belastungen des Jobs bezogen. Als die Ärzte eine komplette Arbeitsunfähigkeit attestieren, bricht für Kazal Yasen eine Welt zusammen. „Ich hatte Angst vor den chronischen Schmerzen und vor einem Leben im Rollstuhl, aber am schlimmsten war die Vorstellung, nicht mehr arbeiten zu können und finanziell abhängig zu sein“, erzählt sie.
Mit der Diagnose fällt Kazal Yasen in ein emotionales Loch, vergräbt sich in ihrem Kummer und gerät in die Isolation. Ein Zustand, den sie jedoch bald als unerträglich empfindet und aus eigener Kraft ändern will. Sie beginnt, sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen. „Ich stellte meine Ernährung auf eine vitaminreiche, fett- und zuckerfreie Kost um, hörte mit dem Rauchen auf und bewegte mich viel in der freien Natur, anstatt lethargisch im Bett zu liegen. Mein Zustand änderte sich schlagartig und ich fühlte, dass ich die Kontrolle über mein Leben zurückgewann“, sagt sie. Um wieder unter Menschen zu kommen und nicht untätig zu Hause zu sitzen, hilft Kazal Yasen mehrmals in der Woche ehrenamtlich bei einer gemeinnützigen Initiative. Ein Glücksgriff, denn hier lernt die tatkräftige Frau ihren heutigen Arbeitgeber kennen.
Die Arbeiterwohlfahrt e.V. (AWO) Schleswig-Holstein gGmbH ist sofort von ihrer Persönlichkeit begeistert und bietet ihr für die Betreuung von Grundschülern eine Stelle als pädagogische Assistentin an. „Zunächst war ich skeptisch, ob ich einen 20-Stunden-Job körperlich schaffe, aber ich fühlte mich nach der langen Arbeitslosigkeit endlich wieder gefordert“, sagt Kazal Yasen. Sie macht ihren Job so gut, dass die AWO ihr eine feste 30-Stunden-Tätigkeit als Sprachvermittlerin und pädagogische Assistentin für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund anbietet. Heute begleitet sie geflohene Kinder und Jugendliche bei der Bewältigung des Alltags, fungiert als Dolmetscherin und ist Ansprechpartnerin für alle Fragen.
Ihre Rheuma-Erkrankung verschweigt sie zunächst und offenbart sich einer Kollegin, als sie nicht in der Lage ist, etwas Schweres zu heben. Die Reaktion überrascht Kazal Yasen, denn statt der befürchteten Ablehnung erfährt sie von Kollegen und Vorgesetzten vollstes Verständnis. „Meine Kollegen übernehmen für mich schwere Tätigkeiten wie Heben oder Tragen. Im Gegenzug bin ich zuständig für Aufgaben, die keine körperliche Belastung erfordern“, ist sie dankbar. Sie fühlt sich trotz ihrer Rheuma-Erkrankung als vollwertige Mitarbeiterin akzeptiert und schätzt das vertrauensvolle, menschliche Miteinander. „Ich möchte allen Rheuma-Patienten Mut machen, sich nicht zu verstecken, sondern ehrlich mit der Krankheit umzugehen“, appelliert Kazal Yasen. „Nur so können Kollegen verstehen, was eine Rheuma-Erkrankung bedeutet.“ Ihr Motto: „Ich konzentriere mich auf meine eigenen Stärken und Kompetenzen und fokussiere mich nicht auf meine Krankheit.“
Eine Lebenshaltung, die auch dem Arbeitgeber größten Respekt abverlangt. „Mit ihrer Rheuma-Erkrankung geht Kazal Yasen sehr offen um. Das ermöglicht uns, Aufgaben individuell ihrer aktuellen Belastbarkeit anzupassen“, sagt Markus Kleinwort, Bereichsleitung Wohngruppen und umA-Betreuung (unbegleitete minderjährige Ausländer) der Jugend- und Familienhilfe Region Süd-West bei der AWO Schleswig-Holstein gGmbH. „Gerade für unsere Klienten aus der stationären Jugendhilfe ist sie ein lehrendes Beispiel, trotz einer gesundheitlichen Einschränkung eine berufliche Teilhabe ausüben zu können“, so Kleinwort. Das Unternehmen verfügt über eine Betriebsvereinbarung zur Gesundheitsförderung, in der unterstützende Maßnahmen und Abläufe festgeschrieben sind. So trage das physische, psychische und soziale Wohlempfinden wesentlich zu einer guten Zufriedenheit am Arbeitsplatz bei und sei der Schlüssel zum Erfolg des Unternehmens.
„Ich bin sehr dankbar für meinen Weg, auch wenn er beschwerlich war“, sagt Kazal Yasen, „denn ich habe gelernt, dass die Krankheit zwar zu mir gehört, aber nicht meine Persönlichkeit definiert.“